St. Vincenz-Krankenhaus Paderborn: Eine Notärztin berichtet von ihrem Alltag

Quelle:https://www.gesundheitshelden.eu/sites/default/files/foto_blogbeitrag_frau_dr._mierau.jpgSt. Vincenz-Krankenhaus Paderborn: Eine Notärztin berichtet von ihrem harten Alltag

Dr. Kerstin Mierau, Oberärztin im St. Vincenz-Krankenhaus Paderborn, berichtet von einem Erlebnis während eines Notarzt-Einsatzes, welches sie emotional sehr berührt und geprägt hat. Damit Unfälle wie der während dieses Einsatzes verhindert werden können, hält Dr. Kerstin Mierau Vorträge im Kontext der Reihe "Crash Kurs NRW".
Ein Tag im Sommer: Ich habe heute 24-Stunden-Notdienst. 15:23 Uhr: Piep…piep... Die Meldung lautet: „Verkehrsunfall mit verletztem Motorradfahrer und einer weiteren verletzten Person.“ Der Notarztwagenfahrer, ein gut ausgebildeter Rettungsassistent, wartet bereits am Wagen. Ich steige ein und mit Blaulicht und Martinshorn fahren wir los. Über den Funk hören wir, dass bereits zwei Rettungswagen zur Unfallstelle unterwegs sind, um die Verletzten zu transportieren. Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert. Was ist, wenn doch? Welche sind die vom Unfallort nächstgelegenen Krankenhäuser? Wenn beide schwer verletzt sind, dann brauche ich einen zweiten Notarzt. 



Sechs Minuten später sind wir zur Stelle. Ich sehe einen Motorradfahrer auf der Straße liegen. Ein Rettungswagen ist bereits vor Ort. Ein Sanitäter und ein Rettungsassistent haben schon den Helm des Motorradfahrers abgenommen. Ich schätze den jungen Mann auf circa 20 Jahre. Er ist bewusstlos, sonst sehe ich auf den ersten Blick keine äußeren Verletzungen, ein gutes Zeichen. Das EKG zeigt, dass das Herz noch schlägt, aber er hat nur eine Schnappatmung. Ich weiß, dass ich jetzt sofort handeln muss, wenn ich noch eine Chance haben will, sein Leben zu retten. Das Motorrad liegt weit entfernt auf dem Seitenstreifen. Wo ist der zweite Verletzte? Jemand muss auch nach ihm sehen. Ich kann hier aber jetzt nicht weg. Denn wenn dieser Junge nicht sofort ärztliche Hilfe bekommt, dann stirbt er.


Mein Rettungsassistent verschafft sich einen Überblick und schaut, wo sich weitere Verletzte befinden. Ich selber bleibe bei dem Motorradfahrer und fühle seinen Puls, kann ihn aber nicht finden. Im EKG sehe ich aber noch eine Herzaktion. Wir müssen ihn wiederbeleben. Die Atmung ist gefährlich knapp. Wir müssen schnell handeln. Ich muss den Jungen beatmen. Vorher noch den Hals stabilisieren, vielleicht ist er gebrochen. Der Sanitäter fängt an, regelmäßig auf den Brustkorb zu drücken, um den Herzschlag zu ersetzen. Fünf Zentimeter tief soll er drücken, 30 Mal, dann beatme ich zwei Mal. Das Ganze im Wechsel, immer wieder. Ich lege einen Zugang und gebe Infusionen und Adrenalin. Vielleicht liegt eine Blutung im Bauchraum vor, die ich nicht sehe oder eine Hirnblutung. Ich schaue in die Pupillen. Sie sind gleich groß, reagieren aber nicht auf Licht. 

„Hubschrauber?“ brüllt jemand. „Ja“, schreie ich zurück: „Vielleicht muss es schnell gehen." Mein Rettungsassistent ist wieder da. Er war bei der anderen verletzten Person. Sie ist ansprechbar, ein zweiter Notarzt ist bereits unterwegs und müsste gleich bei dem Mann sein. Wieder volle Konzentration auf den Jungen. Ich platziere einen Beatmungsschlauch in seiner Luftröhre und schließe das Beatmungsgerät an. Das EKG zeigt keinen Herzschlag mehr. Ich muss defibrillieren. Ich setzte die Paddles auf den Brustkorb und verabreiche einen Stromschlag mit 220 Joule – wieder und wieder. Weiter mit der Herzdruckmassage. Ich höre den Hubschrauber kommen. Nach 30 Minuten zeigt das EKG eine Nulllinie. Weitere Wiederbelebungsversuche machen keinen Sinn mehr. 


Über Funk höre ich, dass die zweite am Unfall beteiligte Person schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht wird. Am Unfallort gibt es für mich nichts mehr zu tun. Ich melde mich bei der Leitstelle wieder einsatzbereit. Ich konnte nichts mehr für den Jungen tun, alle medizinischen Maßnahmen konnten ihn nicht retten. Woran ist er gestorben: Genickbruch oder Hirnblutung? Alles, was ich versucht habe, konnte ihn nicht mehr lebendig machen. Ich denke an seine Familie. Ich denke an meine Familie.

Um weitere solcher Schicksale zu verhindern, halte ich Vorträge im Rahmen der Reihe »Crash Kurs NRW« und berichte über genau solche Erlebnisse. Ein Kollege hat mich angesprochen, dass dafür noch Notärzte gesucht werden, die jungen Fahrern über ihre Erlebnisse berichten. „Wieder eine Lehrveranstaltung, die eh nichts bringt“, habe ich zuerst gedacht. Vor einer Gruppe von Halbstarken aufzutreten, die einem auch noch zuhören sollen, ist eine ganz schöne Herausforderung. Ich bin schließlich keine Lehrerin und habe so etwas nicht gelernt.
Das Prinzip von „Crash Kurs NRW“ funktioniert trotzdem. Ich muss dort bei den Vorträgen nicht viel nachdenken. So wie sich die Bilder in meinem Kopf eingeprägt haben, so erzähle ich meine schlimmen Erlebnisse. Sehr authentisch. Dieser Motorradunfall ist auch nach Jahren noch in meinem Kopf und ich muss aufpassen, dass mir nicht die Stimme versagt. Jeder merkt, dass die Szenen weder aus einem Film noch einem Computerspiel stammen. Hoffentlich können meine Schilderungen wenigstens einige dieser schlimmen Unfälle verhindern!

 

Quelle: https://www.gesundheitshelden.eu/blog/st-vincenz-krankenhaus-paderborn-eine-notaerztin-berichtet-von-ihrem-alltag

Veröffentlicht am Do, 30.10.2014 - 16:08