Den eigenen Bruder reanimiert. Julius Goldstein folgte am Telefon den Anweisungen aus der Leitstelle.{gallery}news/2019/190122kfz{/gallery}
Kreis Paderborn: Es passierte am 17. Juli 2018 kurz vor Mitternacht. Die Brüder Julius und Max Goldstein schauten in Paderborn die TV-Dokumentation »Detlef muss reisen«, als Max völlig unverhofft in sich zusammensackte und auf die Beine von Julius fiel. »Er krampfte, war gar nicht mehr ansprechbar, ich wusste, dass ich besser die 112 anrufen sollte«, erzählt Julius Goldstein.
Angeleitet vom Disponenten in der Kreisfeuerwehrzentrale reanimierte er seinen Bruder.»Als der Mann in der Leitstelle das Wort ›Reanimation‹ sagte, war mir klar, dass es ernst ist«, erinnert sich Julius Goldstein. Der 21-Jährige folgte penibel den Anweisungen am Telefon: »Ich war wie in einem Tunnel, ich habe mich nicht gefragt, ob ich das kann. Ich habe weniger gedacht als vielmehr gehandelt.« In der Schocksituation sei es gut und hilfreich gewesen, »jemanden in der Leitung zu haben«. Als der Rettungsdienst kam, war Julius Goldstein erlöst. Bis dahin hatte er seine Sache großartig gemacht. Max Goldstein kam ohne körperliche und neurologische Schäden davon. »Nichts« sei zurückgeblieben, sagt der 19-Jährige, der sich selbst an die Situation nicht erinnern kann. »Mir wurde nicht schlecht, ich hatte auch keine Herzschmerzen«, weiß er allerdings noch. Möglicherweise war eine leichte Herzmuskelentzündung Auslöser der dramatischen Minuten. Um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden, wurde ihm im Krankenhaus ein ICD-Defibrillator eingesetzt.In der Nacht vom 17. auf den 18. kam den beiden, die aus Lippetal im Kreis Soest stammen, der Zufall zu Hilfe. Max, der an der Uni Paderborn Wirtschaftswissenschaften studiert, und Julius, der Wirtschaftsingenieurwesen gewählt hat, wohnen zwar zusammen, schauen aber nur selten zusammen fern.
Im Schnitt dreimal in der Woche werden Menschen im Kreis Paderborn am Telefon bei der Reanimation angeleitet. Die Kreisfeuerwehrzentrale in Ahden führte den lebensrettenden Service 2014 ein.
»Man hat erkannt, wie wichtig die Leitstelle in der Rettungskette ist«, sagt der Leiter der Leitstelle, Marc Hammerstein. Weil es bei medizinischen Notfällen auf jede Sekunde ankommt, übernehmen die Disponenten in der Leitstelle sofort die Gesprächsführung, wenn ein Anruf unter der 112 reinkommt. Zu der neuen sogenannten strukturierten Notrufabfrage gehört anders als früher, dass der Leitstellendisponent direkt nach der Annahme des Anrufes fragt, wo sich der Notfallort befindet. Er macht dem Anrufer klar, dass er nicht drauflosreden, sondern auf Rückfragen warten soll.
Der Disponent will wissen, was passiert ist, wie der Anrufer heißt, ob er sich in direkter Nähe der behandlungsbedürftigen Person aufhält. Gleichzeitig sagt er ihm: »Hilfe ist unterwegs, und ich helfe Ihnen jetzt!« Parallel gibt er in der Einsatzleitsoftware den Einsatzort und das Stichwort ein, das signalisiert, dass eine Reanimation erforderlich ist. Die Software schlägt dann die zu alarmierenden Rettungsmittel, wie zum Beispiel Rettungswagen und Notarzt, vor.
Um die Schwere der Erkrankung zu klären, erkundigt sich der Disponent beim Anrufer, ob der oder die Betroffene auf Ansprache oder Schütteln reagiert und vor allem, ob sie oder er normal atmet. Wenn nicht, ist eine Reanimation meist unerlässlich. »Damit anzufangen ist das Wichtigste überhaupt, man kann dabei nichts falsch machen«, betont Hammerstein. Die Angehörigen werden zwar zur Herzdruckmassage angeleitet, aber nicht mehr grundsätzlich zur Beatmung. Hier seien die Angst oder der Ekel bei den Menschen groß, erklärt Hammerstein. Herzinfarkte, Herzrhythmusstörungen und eine Herzmuskelentzündung aufgrund einer verschleppten Erkältung könnten zum Atemstillstand führen, und bereits nach etwa drei Minuten drohten neurologische Schäden, weiß er.
Bei einem Notfall im Kreisgebiet soll der Rettungsdienst innerhalb von zwölf Minuten vor Ort eintreffen. Bis dahin sind der Disponent in der Leitstelle und der Ersthelfer vor Ort gefordert. Der Disponent macht nicht nur unmissverständliche Ansagen wie »Stopp, hören Sie mir zu!«, sondern gibt auch klare Anweisungen. Vor allem bei alten Menschen bleibt es bei der Reanimation leider manchmal beim Versuch, aber nicht nur Max Goldstein konnte gerettet werden. »Seitdem wir die Anrufer telefonisch bei der Reanimation anleiten, werden 50 Prozent der Fälle ins Krankenhaus gebracht«, berichtet Hammerstein. Auch Pflegekräfte in Altenheimen werden von den fünf Disponenten im 24-Stunden-Dienst der Leitstelle angeleitet.
Die Leitstelle würde sich freuen, wenn Kranke nicht schon bei leichten Beschwerden, mit denen sie normalerweise zum Hausarzt gehen würden, die 112 anriefen. Dafür sei der unter der Nummer 116117 erreichbare ärztliche Bereitschaftsdienst zuständig, sagt Hammerstein (45).
Bei Atemnot, Schmerzen in der Brust oder Lähmungserscheinungen sollte dagegen die 112 gewählt werden.
So läuft die Reanimation am Telefon ab
• Lautsprecher am Telefon einschalten
• den Patienten mit dem Rücken auf den Boden legen
• den Oberkörper freimachen
• Atemwege freimachen, den Kopf nackenwärts strecken
• sich seitlich neben den Patienten knien
• die Hände übereinander auf die Mitte des Brustkorbs des Patienten legen
• kräftig und rhythmisch drücken
• Disponent gibt den Takt vor: 1,1,1,1,1....
• Druckmassage nicht unterbrechen.
In Zukunft soll die Software der Leitstelle wie ein Metronom den Takt vorgeben, der Angehörige wird ihn hören und seine Herzdruckmassage daran anpassen.
Quelle: Westfälisches Volksblatt